Ein Puppenspiel im Wald

Die Familienoper von Engelbert Humperdinck glänzt mit einer Topbesetzung und musikalischem Hochgenuss. Die Inszenierung ist ebenfalls gelungen, setzt auf ein «Theater-im-Theater-Konzept».

Kinder der Kantorei Luzern spielen eine tragende Rolle im Stück. In der Mitte Solenn' Lavanant Linke als «Hänsel» (links) und Tania Lorenzo Castro als «Gretel». Bild: Ingo Höhn

Die Bläser intonieren die ersten ruhigen Takte der Ouvertüre – zum Glück bei geschlossenem Vorhang, danke, Dirk Schmeding (Regie). Der «Abendsegen» wird angespielt. Man lauscht nicht abgelenkt dieser genial gestalteten, einfach aufgebauten Melodie. Sofort ist sie da, die Zuneigung für diese «Hänsel-und-Gretel-Musik», die seit 130 Jahren Theatergäste berührt. Das war am vergangenen Samstag im Luzerner Theater nicht anders. Diese Produktion des Hauses an der Reuss ist ein grossartiges musikalisches Ereignis – gesanglich und instrumental. Der tosende Applaus zum Schluss war kein Anstand, sondern Ergriffenheit.

Man lästert ja aus lauter Gewohnheit über den Raumklang im «alten Theater». Was das Luzerner Sinfonieorchester unter der Leitung von Jesse Wong aber in dieser Produktion anbietet, ist exquisites Ausbalancieren der Instrumentengruppen, die trockene Akustik des Theaterraums wird teilweise überwunden. Wong macht keine Experimente mit Tempi und Lautstärken, sondern gestaltet einen eindringlichen Humperdinck-Klang, der die Sänger:innen herrlich trägt, nie konkurrenziert – ausser in einer Passage, siehe weiter unten.

Entschlackter Wagner-Sound

Zum Werk: Geschickt dezimierte Adelheid Wette, die Schwester des Komponisten Humperdinck (1854 – 1921), die Gemeinheiten aus dem bekanntesten Märchen des Sprachraums der Brüder Grimm (Urfassung: 1810). So werden in der Oper Hänsel und Gretel von den Eltern im Wald nicht ausgesetzt – und die leibliche Mutter, anstatt der Stief-Version im Buch, überlebt den Schluss der Geschichte. Die Librettistin Wette bat 1890 ihren Bruder um ein paar Melodien für ein kleines Theaterspiel. Daraus wurde eine Oper, uraufgeführt am Tag vor Heiligabend 1893, dirigiert von Richard Strauss. Ein Grosserfolg, sofort. Die Mischung aus volkstümlichen Ohrwurm-Melodien (u. a. «Ein Männlein steht im Walde», «Suse, liebe Suse») und entschlacktem, nie ins Atonale kippendem «Richard-Wagner-Sound» begeistert. Humperdinck war jahrelang ein «Jünger» des Überkomponisten der Spätromantik, arbeitete mit ihm zusammen in Bayreuth am «Parsifal» 1882. Dieser «Schock» stürzte Humperdinck in eine Schaffenskrise. «Hänsel und Gretel» war deren Überwindung.

Zurück nach Luzern, zu den Titelrollen, gesungen von Solenn\' Lavanant Linke (Hänsel) und Tania Lorenzo Castro (Gretel). Eine Idealbesetzung! Der lyrische Mezzo-Klang der Isländerin gibt dieser Hosenrolle (Frau spielt Mann) Wärme und Eindringlichkeit. Die spanische Sopranistin ergänzt das Duo mit herrlicher Frische und beeindruckenden Reserven bis in höchste Lagen. Dazu kommt bei der zierlichen Lorenzo dieser Habitus, der ihr schon im LT-«Rosenkavalier» und «Revues des Folies» Elogen an dieser Stelle einbrachten: Mit ihrer Wirbligkeit, ihrer Mimik, ihrem Schauspiel belässt sie junge Rollen wirklich «jung». Eine Seltenheit bei solch anspruchsvollen Partien. Herausragend ist auch der kurze Part des «Sand- und Taumännchens» Stefanie Knorr. Vladyslav Tlushch als Vater Besenbinder ist ein vereinnahmender Bariton. Sein Lied «Ra-la-la-la» ein weiteres Highlight des ersten Bildes. Glück im Unglück hatte das LT mit der Rolle der Mutter Gertrud. Marcela Rehal war am Premierenmorgen stimmlich angeschlagen. Innert Stunden konnte Ersatz gefunden werden. Marie-Belle Sandis wurde «eingeflogen», sang souverän von der ersten Loge ein, Marcela Rehal bewegte die Lippen in der Rolle auf der Bühne. Toll gemacht.

Treekie als Engel

Die Hexe am LT ist männlich, gesungen von Robert Maszl, eine gute Idee, mit einem kleinen Schatten. Die Regie platziert den souverän singenden Tenor oft im hinteren Bühnenbereich. Die Stimme hat «gegen» das Orchester in diesen Positionen wenig Chancen, die eigentlich erwartete Wuchtigkeit des Hexenauftritts geht verloren. Das Stückkonzept von Regisseur Dirk Schmeding ist gelungen angelegt: Eine grosse Schar Kinder (Luzerner Kantorei) inszeniert «Hänsel und Gretel» als Puppenspiel. Immer wieder sind die jungen, solide singenden Künstler:innen Initianten oder Be­gleiter der Handlung. So als moderne Engel im zweiten Bild, darunter eine junge ­«Wal­küre» (so wegen Richard Wagner) oder als Kontrapunkt ein «Trekkie» aus «Star Wars» … Wunderschön ins Licht (Clemens Gorzella) gesetzt auch die Szene am Abend, als die Kinder Glühwürmchen rund um Hänsel und Gretel erscheinen lassen. Das Hexen-Knusperhaus findet nicht statt, stattdessen werden die Titelfiguren mit Süssigkeiten an langen Stangen zur Hexe gelockt. Diese Letztere hat im Kostümkonzept von Britta Leonhardt den Besen gegen eine übergrosse Kochmütze und einen ­Kugelschlund getauscht. Die Eltern im Publikum werden ihren Kindern da Erklärungen abgeben müssen. Das Puppenspiel-Konzept ergibt auch sonst knallig-amü­sante Kostüme mit groben Stoffen und wollenen Perücken. Das bereits erwähnte spannend gesetzte Licht und viel Bühnenrauch (im letzten Bild) versetzen die schlicht ausgestattete, achteckig umrahmte Bühne in märchenhafte Stimmungen.

Zum Schluss ist die Hexe im Ofen, der Besenbinder und seine Frau haben ihre Kinder wieder, der mächtige Schlusschoral in F-Dur lässt ein letztes Mal den «Abendsegen» erklingen, Gänsehaut im Publikum. Humperdincks Oper bekommt im Luzerner Theater eine Inszenierung und vor allem eine musikalische Klasse, die diesem Meisterwerk der Spätromantik vollumfänglich gerecht wird.

Andréas Härry

Nächste Spieldaten

Fr., 17. Nov., 19.30 Uhr / So., 19. Nov., 19 Uhr /Do., 23. Nov., 19.30 Uhr / So., 26. Nov., 13.30 Uhr

Dauer: 125 Minuten

Mehr Infos: www.luzernertheater.ch 

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